Kanalarbeiten
Die größten Windkanäle Europas

Die drei größten und leistungsfähigsten Windkanäle Europas stehen in den Niederlanden, in Frankreich und Deutschland. Wofür werden die komplexen und teuren Anlagen benötigt?

Die größten Windkanäle Europas
Foto: DNW

Sie sind die Schwergewichte unter den europäischen Windkanälen: der große Niedergeschwindigkeitswindkanal (Large Low-Speed Facility, LLF) in Marknesse, der S1MA in Modane-Avrieux und der Europäische Transsonische Windkanal (ETW) in Köln. Hier geben sich Flugzeug- und Triebwerkshersteller aus aller Welt sowie Forschungseinrichtungen die Klinke in die Hand. Doch warum untersucht man heute noch sündhaft teure Modelle (je nach Größe und Detailgrad kosten sie mehrere Millionen Euro) in sündhaft teuren Anlagen? Pro Messtag werden schließlich, je nach Windkanal, hohe fünf- oder sogar sechsstellige Beträge fällig. Die Antwort ist einfach: In Windkanälen wie den drei großen europäischen sind Tests unter annähernd realen Flugbedingungen möglich. Und das sicherer, schneller und trotz allem günstiger als Flugtests mit einem originalgroßen, bemannten Prototyp. Die numerische Simulation (Computational Fluid Dynamics, CFD) wird zwar immer besser, ganz auf physikalische Tests verzichten kann man aber weder in der Entwicklung noch in der Zulassung. Denn es muss überprüft werden, ob die zugrunde gelegten physikalischen Annahmen gültig sind.

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ETW
Die Tests in den Windkanälen sind teuer, fünf- oder sechsstellige Beträge können hier schon mal fällig werden, damit sind sie aber immer noch günstiger als bemannte Flugtests in originalgroßen Prototypen.

Komplementäre Werkzeuge

"CFD-Codes sind für die konzeptionelle Bewertung sehr effiziente Werkzeuge und könnten möglicherweise die Notwendigkeit von Windkanaltests verringern. Für die Bewertung komplexerer aerodynamischer Phänomene, zum Beispiel Stabilität bei der Landung und bei der Schubumkehr, geben Windkanaltests aber noch immer einen besseren Einblick", erklärt Dr.-Ing. Andreas Bergmann, Direktor der Stiftung Deutsch-Niederländische Windkanäle (DNW). Die Organisation, die 1976 vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) und ihrem niederländischen Pendant NLR etabliert wurde, betreibt neben dem LLF fünf weitere Windkanäle in Marknesse, Amsterdam, Göttingen und Braunschweig.

Jeder Windkanal deckt einen anderen Ausschnitt der Wirklichkeit ab und hat seine eigenen Besonderheiten. Im LLF, dem größten europäischen Niedergeschwindigkeitswindkanal, können Geschwindigkeiten bis Mach 0.42 sowie Starts und Landungen so realitätsnah wie in kaum einer anderen Anlage simuliert werden: Am Boden der Messstrecke kann eine Art Startbahn, ein schnell laufendes, fast acht mal sechs Meter großes Rollband installiert werden. "Es ist von der Größe her einmalig", so Bergmann.

Der S1MA in den französischen Alpen ist nach eigenen Angaben der größte transsonische Windkanal der Welt. Versuche bis Mach 1 werden hier durchgeführt. "Der S1MA-Windkanal eignet sich besonders für industrielle Tests, wenn die Formen verfeinert werden, um die Leistung eines Flugzeugs zu bestimmen. Er ist auch sehr relevant für die Untersuchung von Details an großen Profilen, beispielsweise für Forschungstests zur Laminarität", sagt Marie-José Martinez, Windkanal-Direktorin bei der französischen Luft- und Raumfahrtforschungsorganisation ONERA. Und der ETW gehört international zu den leistungsfähigsten Windkanälen. Er ermöglicht die ganze Bandbreite von Hochauftriebstests bei niedrigen Geschwindigkeiten über den Reiseflug moderner Transportflugzeuge bis hin zum niedrigen Überschallbereich (Mach 1.35). "ETW hat die einzigartigen Fähigkeiten, flugähnliche Bedingungen reproduzierbar und im Labormaßstab bis hin zu Laminaruntersuchungen darzustellen sowie Reibungs- und Deformationseffekte getrennt voneinander untersuchen zu können", sagt Dr.-Ing. Guido Dietz, Managing Director ETW.

Einen Anhaltspunkt für die Güte der Strömungsbedingungen in einem Windkanal liefert die Reynoldszahl. Diese dimensionslose Kennzahl ist definiert als Strömungsgeschwindigkeit des Fluids mal charakteristische Länge des Testkörpers geteilt durch kinematische Viskosität des Fluids. Sie gibt das Verhältnis von Trägheits- und Zähigkeitskräften einer Strömung an. Für Windkanäle gilt: Je größer die Reynoldszahl, desto besser.

ETW
Jeder Windkanal hat seine eigenen Besonderheiten. Hier zu sehen: Laminarflügel-Tests im ETW.

Größe ist Trumpf

LLF und S1MA sind atmosphärische Windkanäle, sie nutzen die Umgebungsluft. "Deshalb können Dichte und Viskosität nicht aktiv verändert werden, die einzigen variablen Parameter sind Geschwindigkeit und Größe", sagt Bergmann. "Macht man die Dimensionen so groß wie möglich, ergibt das eine hohe Reynoldszahl. Je größer also der Windkanal, desto besser die Simulation." So ist Platz für große Modelle. Im LLF, dessen größte Messstrecke 9,5 x 9,5 x 20 Meter misst, weisen sie typischerweise Spannweiten von rund sechs Metern auf. Je nach Konfiguration der Messstrecke werden im LLF Reynoldszahlen von bis zu sechs Millionen pro Meter erreicht. Zudem haben große Modelle einen weiteren Vorteil: einen hohen Detailgrad. "Das gibt die Möglichkeit, lokale aerodynamische und aeroakustische Phänomene genauer zu bewerten. Besonders während Start- und Landephasen können diese Details Stabilität und Steuerverhalten wesentlich beeinflussen und erhebliche Geräuschquellen sein", sagt Bergmann.

Mit maximal 8 x 8 x 14 Metern bietet der S1MA-Windkanal etwas kleinere Messstrecken als der LLF. Die Spannweiten typischer Modelle sind mit bis zu vier Metern aber immer noch gewaltig. Reynoldszahlen bis zu 11,8 Millionen pro Meter sind möglich. Der S1MA wird häufig für die Untersuchung neuer Antriebsinstallationen genutzt, zum Beispiel gibt es eigens einen Prüfstand für Open-Rotor-Triebwerke. "Die Größe des Windkanals ermöglicht es, alle aerodynamischen Details der Triebwerksaufhängung an den Flügeln sehr genau darzustellen", sagt Marie-José Martinez.

Anders als im LLF- und im S1MA-Windkanal werden die Reynoldszahlen im ETW nicht durch die Größe der Messstrecke und der Modelle in die Höhe getrieben. Stattdessen wird durch höheren Druck (bis zu 4,5 bar) und niedrigere Temperatur (bis zu minus 163 Grad Celsius) die Dichte des Strömungsmediums gesteigert und dessen Zähigkeit gesenkt. Anstelle von Umgebungsluft wird flüssiger Stickstoff eingespritzt, verdampft und beschleunigt. Der ETW erreicht Reynoldszahlen, wie sie im tatsächlichen Flug auftreten: bis zu 50 Millionen bei Vollmodellen (Spannweite rund 1,6 Meter) und sogar bis zu 85 Millionen bei Halbmodellen (Spannweite 1,3 Meter). Die separate Regelung von Druck, Temperatur und Strömungsgeschwindigkeit erlaubt es, Machzahl, Reynoldszahl sowie die Modellbelastung und -verformung über den Staudruck unabhängig voneinander zu steuern.

ONERA
S1MA ist ebenso wie LLF ein atmosphärischer Windkanal, der die Umgebungsluft nutzt.

Zukunftskonzepte im Visier

Trotz der einzigartigen Möglichkeiten, welche die drei europäischen Windkanal-Kronjuwelen bieten, sind auch sie nicht von der Corona-Pandemie verschont geblieben. Gelitten haben vor allem jene Anlagen, die keine staatliche Grundfinanzierung haben und fürs Überleben auf die Testeinnahmen angewiesen sind. "2020 ist die industrielle Auslastung des ETW um fast 50 Prozent eingebrochen; sie erholt sich nun zwar, aber merklich langsamer als erhofft", sagt Dietz. Hoffnung setzen die Betreiber der großen Windkanäle unter anderem in die Erforschung künftiger Flugzeug- und Antriebskonzepte wie beispielsweise Blended Wing Bodies, Flügel mit großer Streckung und verteilte elektrische Antriebe. "Es besteht Bedarf zum Aufbau einer neuen Datenbasis für die neuen Konzepte", so Bergmann. "Wir sind davon überzeugt, dass Windkanaltests noch viele Jahre ein Muss sein werden", sagt Marie-José Martinez.

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FLUGREVUE 05 / 2024
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Erscheinungsdatum 11.04.2024